Montag, 15. Juni 2020
Was ein Sprachracker so vorhat!
Das Vorhaben meines Blogs Sprachracker ist es, das wenig bis gar nicht reflektierte Sprachdenken in der pädagogisch-therapeutischen Theorie und Praxis (Sprachliche Bildung, Sprachförderung & Sprachtherapie) und die sich daraus ergebenden Konsequenzen ins Visier zu nehmen und dabei:

1. Die immer noch vorherrschende einseitige Denkweise über Sprache in den betreffenden Disziplinen (Pädagogik, Psychologie und Sprachtherapie - aber auch Sprachwissenschaft und Philosophie) darzulegen.

2. Bereits existierende Gegenentwürfe aus der Sprachwissenschaft und Philosphie zu präsentieren.

3. Den fehlenden wissenschaftlichen Diskurs in der Sprach(heil)pädagogik deutlich zu machen.

4. Die Auswirkungen für die beteiligten Menschen (Geförderte ebenso wie Fördernde) zu schildern.

5. Andere - und zugleich praktikabelere (!) - Wege abzuleiten und zu betreten, die für alle am Prozess pädagogisch-therapeutischer Sprachpraxis Beteiligten vielversprechender sind.

6. Die milliardenschweren Subventionen von Kitas für die Umsetzung von Sprachförderung und sprachlicher Bildung in Frage zu stellen.

So - das sollte fürs Erste reichen.

Welche Denkweise über Sprache herrscht in unserer Gesellschaft vor?

Zunächst werde ich erklären, was mit 'Denkweise über Sprache' gemeint ist. Der Kürze halber werde ich von 'Sprachdenken' sprechen.
Um den Einstieg nicht zu sperrig zu gestalten, ein kleines Quiz:
Lehrerin zu einem Schüler: "Wo ist dein Füller?"
Antwort des Schülers: "In meinem Etui."
Die Lehrerin schreit den Schüler an: "WENN ICH DICH ETWAS FRAGE, ANTWORTEST DU GEFÄLLIGST IN GANZEN SÄTZEN!"

Viele geben der Lehrerin recht: Man solle ja schließlich in ganzen Sätzen reden. Sie folgen einer sozial vermittelten Norm, die selten in Frage gestellt wird. Aber genau das mache ich jetzt:
Stellen wir uns dieselbe Lehrerin im Lehrerzimmer vor. Sie wendet sich an einen Kollegen:
Lehrerin: "Wo sind denn die Textmarker?"
Kollege: "In der Stiftebox."
Quizfrage: Wird die Lehrerin dieselbe Erwartung an ihren Kollegen haben und diese ihm gegenüber einfordern? – Wohl kaum!
Anscheinend ist die explizite Erwartung an gewisse sprachliche Normen sozial geregelt. Von Untergeordneten wird sie erwartet und darf eingefordert werden, sobald diese von der Norm abweichen. Dieselbe Abweichung wird aber sozial gleich oder höher Gestellten gegenüber zugelassen.
Der Witz ist, dass die scheinbar unvollständigen – weil nicht im ganzen Satz formulierten – Antworten des Schülers UND des Lehrerkollegens völlig angemessen und mündlich normal (!) sind. Beide Reaktionen ermöglichen eine Verständigung, die nicht weiter klärungsbedürftig ist. Der Kollege hat nur das Glück, dass er Lehrer ist.
Aber warum dann dieses Festhalten an der syntaktischen Vollständigkeit?

Ergänzend muss ich noch hinzufügen, dass das Beispiel mit der Lehrerin keineswegs fiktiv ist. Es hat sich so in einer Unterrichtsstunde zugetragen.

Mir dient diese Szene dazu, zu veranschaulichen, wodurch unser Sprachdenken geprägt ist - und nicht nur in pädagogischen Institutionen.
Denn auch im Alltag begegnet einem der Anspruch auf vollständige Sätze: Mein Tabakhändler meinte mal (allerdings augenzwinkernd) zu mir: "Na, ist wohl heute nichts mit ganzen Sätzen!", nachdem ich "'Ne rote Gaulloise für 7 Euro." orderte.

Und auch an Erzieherinnen ergeht immer wieder die Aufforderung mit Kindern in ganzen Sätzen zu sprechen. Dies findet sich in aktueller Aus- und Weiterbildungslitaratur für Erzieherinnen wieder: In Jaszus et al. (2014) Sozialpädagogische Lernfelder für Erzieherinnen und Erzieher oder in Jampert et al. (2011) Die Sprache der Jüngsten entdecken und begleiten. Im Ersteren wird ausdrücklich gefordert, dass Erzieherinnen in korrekten und vollständigen Sätzen sprechen sollen und im Letzteren findet sich die Aufforderung von satzwertiger Sprache durch die Pädagogin wieder.
Das Verblüffende ist, dass im Kita-Bereich gerne übersehen wird, dass wir uns dort im Reich des Mündlichen bewegen und solche Erwartungen an die Erzieherinnen fragwürdig sind.

Aber woher stammt diese einem immer wieder entgegengebrachte Erwartungshaltung, in vollständigen Sätze zu sprechen?

Das liegt insbesondere daran, wie Menschen in schriftsprachlichen Kulturen angefangen haben, über Sprache zu reflektieren. Dazu morgen mehr (kein vollständiger Satz übrigens!)…

[Entschuldigung an die Blogger, deren Kommentare jetzt verschwunden sind. Ich fange gerade erst am Bloggen an (wenn ich das Ruhrpott'sche Present Progressive bemühen darf;-) und muss mich noch zurechtfinden.]

Ich greife aber die Anmerkung auf 'in meinem Etui' sei ein vollständiger Satz. Ich habe es versäumt zu klären, was mit einem vollständigen Satz gemeint ist. Also: Die Vollständigkeit eines Satzes ist dadurch gekennzeichnet, dass es ein flektiertes Verb (oder Prädikat) gibt und ein Subjekt dazu. Das ist sozusagen die Minimalanforderung. Beispiele sind 'Ich gehe.' 'Sie redet.' Du sprichst.' etc. Abhängig vom Verb können noch Objekte (Akkusativ und Dativ) hinzukommen: 'Die Oma gibt dem Mädchen den Hocker.' Eine Phrase wie 'in meinem Etui' oder 'in der Stiftebox' sind Präpositionalphrasen (eine abgeschlossene Wortgruppe mit einer Präposition am Anfang). Ohne Prädikat bilden sie für sich genommen aber keinen Satz.
Die Lehrerin in meinem Beispiel fordert also folgende Aussage des Schülers: "Mein Füller befindet sich in meinem Etui." Hier wäre 'Mein Füller' das Subjekt, 'befindet sich' das Prädikat und 'in meinem Etui' eine adverbiale Bestimmung des Ortes. Damit läge dann ein strukturell vollständiger Satz vor.

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